Wie im Hauptartikel geschildert wird ist Angst selbst nichts weiter als eine Körperreaktion. Psychotherapeutische relevant werden Ängste erst, wenn sie irrational sind und das Leben der Patienten massiv stören. Ängste sind verhaltenstherapeutisch sehr gut behandelbar und auch Tiefenpsychologen sollten, meiner Ansicht nach, Expositionen als Mittel der Wahl wählen. Aber wieso sind Expositionen so wichtig?
Long Story Short: Ohne Exposition gibt es keine korrigierende Erfahrung und ohne korrigierende Erfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Besserung von Verhalten oder Erleben. Das zweite und zugleich größere Problem ist: Wenn man Ängste nicht konfrontiert, breiten Sie sich häufig aus. Dies kann mittel- bis langfristig zu höherer Symptombelastung führen. Doch wieso breiten sich Ängste eigentlich aus? Was ist der Mechanismus dahinter. Die Antwort finden wir in der Grundlagenforschung der Lernpsychologie. Sie lautet: Evaluative Konditionierung. Normalerweise würden jetzt sperrige Begriffe wie unkonditionierter Reiz, konditionierter Reiz und Konditionierter Reiz höherer Ordnung kommen, ich erläutere das meinen Patienten meist einfach und narrativ.
Stellen sie sich vor, sie sind in einer Disko, gehen von dort nach Hause und sie treffen Paul. Paul kennen sie nicht, bei der ersten Begegnung erbringt er Ihnen ungefragt und unerwünschterweise den eher unangenehmen Service einer kostenlosen Gesichtsakkupressur: Kurz er klebt dir so richtig eine. Sonst weißt du nicht viel über Paul.
Eine Woche später bist du auf eine WG-Party eingeladen. Du siehst dort deinen Kommilitonen Stefan . Du kennst Stefan nicht sonderlich und hattest eigentlich nichts mit ihm zu tun. Du bemerkst, dass Stefan den ganzen Abend mit Paul abhängt, der auch auf der Party ist. Immer wenn du Stefan in Zukunft siehst, stellst du fest: Er ist die unsympathisch.
Auf dem Geburtstag von Freunden lernst du auch eher beiläufig Stefans besten Freund Klaus kennen. Auch zu Ihm hast du keine besondere Meinung. Als du die beiden jedoch gemeinsam in der Stadt siehst, kannst du auch ihn nicht mehr sonderlich leiden. Alles hier Beschriebene sind Befunde aus der experimentellen Grundlagenforschung der Psychologie.
Allgemeiner formuliert: Wird ein uns unbekannter Reiz mit einem unvorhergesehenen unangenehmen Reiz gepaart, wird uns dieser unangenehm. (Paul + Ohrfeige = Paul-Aversion, nicht Paula-Version ;)).
Wird nun ein weiterer unbekannter Reiz mit Paul dargeboten (Stefan + Paul = Stefansversion). Wir stellen hier fest, dass Stefan nie etwas mit einer Ohrfeige zu tun hatte!
Wenn nun Stefan mit Klaus im Verbindung gebracht wird, wird diese wahrscheinlich auch auf Klaus übergehen. Wichtig hierbei: Klaus hatte nie etwas mit einer Ohrfeige und nie etwas Paul zu tun. Er wird als aversiv wahrgenommen, ohne dass direkt oder indirekt mit einem Bestrafungsreiz Kontakt bestand.
Bildlich lässt sich das Ganze wie folgt zusammenfassen. Hier jedoch anders dargestellt (Paul = Käse, Ohrfeige = Elektroschock, Stefan = Blume, Klaus = Flasche).
Nun kommt die Krux: vermeiden wir weiter, wird sich auch die Angst weiter ausbreiten können. Sie wird vielleicht schwächer, aber sie wird reichen um uns vom Wesentlichen fernzuhalten. Vielleicht haben wir vor Ohrfeigen große Angst, vor Paul auch und fühlen uns in Anwesenheit von Stefan und Klaus nur unwohl. Aber das kann schon reichen um soziale Begegnungen zu vermeiden, bis hin zur Erkenntnis: Gehe nicht auf Parties, das ist gefährlich, du kannst Menschen nicht trauen.
Eine korrigierende Erfahrung kann nur stattfinden, wenn (auch wenn ich den direkten Kontakt zu Paul lieber vermeide), vielleicht erst mit Stefan und dann mit Klaus spreche – nur so kann ich feststellen, dass sie ungefährlich und vielleicht sogar sympatisch sind (systematische Desensibilisierung). Die schnellste Möglichkeit seine Ängste zu beseitigen, wäre wahrscheinlich mit Paul direkt zu sprechen, sofern es nicht wieder zur Eskalation kommt. Damit würdean automatisch auch die Aversion gegen Stefan und Klaus verschwinden (Flooding / Maximalexposition).
Da Ängste in der Regel einfach zu behandeln sind und die Patienten bei adäquater Behandlung meist schnell Erfolge verzeichnen, kann ich nicht verstehen wieso so viele verhaltenstherapeutische (vor allem aber auch tiefenpsychologischen) Kollegen auf das Mittel der Wahl verzichten.
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