Sowohl Angsterkrankungen, als auch Depression sind stark mit Belastung und Anspannung verbunden. Daher ist es sinnvoll, wenn die biologischen Grundlagen der Anspannung und Entspannung grundlegend geklärt sind. Nur so ist klar, was in Situationen der Hochspannung und der mittleren Anspannung zu tun ist.
Es gibt zwei hormonelle Gegenspieler. Den Sympathikus und den Parasympathikus. Der erste ist für die Vorbereitung auf Kampf oder Flucht zuständig. Letzterer ist notwendig um den Körper langfrsitig zu erhalten. Überblicksartig wird das hier nachvollziehbar:
Prinzipiell schließen sich parasymphatische und sympathische Aktivierung aus, oder kurz: Es ist unmöglich zeitgleich angespannt und entspannt zu sein. Dies ist vor allem wichtig, wenn es um den Umgang mit hoher Anspannung und vor allem auch wenn es um Überlegungen darum geht, wie man die Grundanspannung reduzieren kann.
Wieso versagen Entspannungsverfahren?
Grundlegend wird die Funktion von Entspannungsverfahren häufig falsch verstanden. Die meisten verwenden sie erst, wenn sie schon in sehr starker Anspannung sind. Genau dann funktionieren die Entspannungsverfahren häufig nicht mehr. Wenn die Anspannung eine gewisse Obergrenze (70%) übersteigt, wird der Sympathikus aktiviert. Das sorgt dafür, dass Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet werden, darüber hinaus steigt die Sauerstoffsättigung im Blut an. Dies lässt sich nur durch Bewegung gegenregulieren. Entspannungsverfahren sind nun nicht mehr wirksam. Entspannungsverfahren bei hoher Anspannung anzuwenden, wird demnach immer zu Frustration führen, Patienten werden bei diesem vorprogrammiertem Misserfolg nur wenig Bereitschaft zeigen langfristig mit Entspannungsverfahren zu arbeiten.
Bei hoher Anspannung sollten Patienten wissen, dass nur Bewegung helfen kann, diese schnell abzubauen. Ein zügiger Spaziergang oder das Hinauf- und Herablaufen von Treppen, kann schon in relativ kurzer Zeit zu einer Verringerung hoher Anspannung beitragen. Danach, kann dann ein Entspannungsverfahren eingesetzt werden, um die Anspannung weiter zu reduzieren.
Wie funktioniert es mit der Entspannung?
Damit Entspannungsverfahren funktionieren, sollte die Grundanspannung immer wieder reduziert werden, bevor es zu einer stark erhöhten Anspannung kommt. Daher sollte die Entspannungsübung idealerweise mehrfach über den Tag erfolgen. Folgendes Schaubild illustriert die ideale Anwendung.
Wie zu sehen ist, steigt die Anspannung zwar, erreicht jedoch durch die immer wieder angewendeten Entspannungsübungen nie den kritischen Bereich. Würde dieser erreicht werden, müssten Adrenalin, Nordadrenalin, und Cortisol durch Bewegung abgebaut werden, bevor die Entspannungsverfahren wieder greifen. Nochmal: Hohe Anspannungszustände lassen sich nicht durch Entspannungsverfahren korrigieren.
Ich bevorzuge für meine Patienten die Progressive Muskelrelaxation. Autogenes Training ist gleichermaßen wirksam, vermutlich ebenso achtsamkeitsbasierte verfahren, Bewegungsentspannungsübungen und Meditationsübungen. Der Vorteil an PMR sind die leichte Erlernbarkeit, leichte Anwendbarkeit und die kurze Dauer der Übung (5-10 Minuten).
Ich empfehle meinen Patienten die Übung immer im Sitzen durchzuführen, so lernen sie sie so, wie sie die Übung überall anwenden können. Wichtig ist, die Einbettung in den Alltag, damit zukünftig hohe Anspannungszustände vermieden werden, die auch schnell zu fehlerhaftem und unüberlegtem Handeln oder Arbeiten führen können.
Das bedeutet, man sollte auf Instruktionen, Begleitmusik, Wohlfühlathmosphäre ganz bewusst verzichtet, damit man lernt die Übung immer und überall anzuwenden.
Progressive Muskelrelaxation
Vermutlich werde ich bald ein Instruktionsvideo für die PMR aufnehmen, bis dahin muss die schriftliche Beschreibung reichen.
Ablauf der Übung
Suchen sie sich einen bequemen Platz, an dem sie entspannt sitzen können. Störungsfreiheit ist hilfreich, die Übung kann jedoch prinzipiell auch in Meetings angewandt werden. Schließen sie die Augen (sofern sie allein sind) und konzentrieren Sie sich auf die Atmung. Sprechen sie innerlich laut mit, wenn sie atmen. Wenn sie einatmen, sagen sie innerlich laut Einatmen, wenn sie Ausatmen sagen sie innerlich laut ausatmen. Kommen sie in ihrer Atmung an und beginnen sie danach die einzelnen Muskelgruppen nacheinander anzuspannen und zu entspannen.
Wenn sie eine Muskelgruppe anspannen, tun sie das so fest wie es geht. Das darf weh tun und zittern. Halten sie die Anspannung für drei Atmenzyklen an (3x einatmen/ausatmen). Hören sie dann auf die Muskel anzuspannen.
Spüren sie nach, wie sich die Anspannung aus dem Muskel löst, konzentrieren sie sich auf ihre Körperwahrnehmung. Wie verändert sich die Anspannung in den Muskeln. Nehmen Sie sich hierfür mindestens 3 Atemzyklen Zeit (3x einatmen/ ausatmen)
Arbeiten sie unten genannte Muskelgruppen nacheinander ab. Bei jeder Muskelgruppe beginnen sie mit der Anspannung und Verbleiben in der Entspannung. Achten sie auf die Atemzyklen und sprechen sie beim Atmen innerlich laut mit.
Haben Sie alle Muskelgruppen absolviert, schüttel Sie sich ein wenig und öffnen sie wieder ihre Augen, sie dürfen das gerne mit einem „Kriegsschrei“ verbinden, damit sie wieder etwas wacher werden, wie z.B.: „Boooyaaah“.
Muskelgruppen
Folgende Muskelgruppen empfehle ich zur Durchführung. Natürlich können einzelne Muskelgruppen übersprungen werden. Ich empfehle die Reihenfolge beizubehalten, so dass der Ablauf einfacher eingeprägt werden kann.
- Fäuste
- Popeye: Unterarme, Bizeps und Fäuste gleichzeitig anspannen
- Gesichtsmuskulatur: Alles was man findet, darf/ muss doof aussehen
- Schultern: Arme hinter die Stuhllehne und Schultern hochziehen
- Bauchmuskeln
- Gesäßmuskeln
- Oberschenkel: Füße nach vorne ausstrecken
- Unterschenkel und Füße: Fußsohle und Waden anspannen
Sofern man nicht alleine ist während der Durchführung kann es sinnvoll sein, Muskelgruppen oder Komplexe auszulassen, die sehr auffällig sind in der Durchführung (Popeye, Gesicht).
Anwendungshinweise
Einige Teile der Instruktion mögen willkürlich erscheinen, sollten allerdings befolgt werden. Wieso erläutere ich gerne.
Innerlich laut mitsprechen beim Atmen
Wieso soll ich bei der Durchführung innerlich laut mitsprechen? Ganz einfach: Wir besitzen eine Arbeitsgedächtnisfunktion, die phonologische Schleife genannt wird. Wir „hören“ viele unserer Gedanken. Wenn wir sprechen, auch innerlich, überschreiben wir die Gedanken, da sie diese Arbeitsgedächtnisfunktion der phonologischen Schleife nutzen. Viele Patienten können sich nur schlecht auf die Übung konzentrieren, weil eigene Gedanken immer wieder „dazwischenfunken“. Dies soll durch das innerlich laute Mitsprechen beim Atmen unterbunden werden.
Wieso 3 Atemzyklen?
Auch hier ist die Antwort einfach: Theretisch können es auch gerne 4 oder 5 Atemzyklen sein, wichtig ist primär, dass man die Dauer der Anspannung und Entspannung in Atemzyklen festlegt. Würde man sich eine Zeitdauer als Ziel setzen, müssten man permanent die Zeitdauer prüfen und wäre demnach abgelenkt. Man sollte zudem nicht zu viele Atemzyklen wählen, da man sonst schnell den Überblick verlieren kann, oder womöglich beim mitzählen unachtsam wird und dann unter Anspannung gerät, wenn man etwas „falsch“ macht.
Wieso drei mal täglich?
Auch diese Anzahl ist als Faustregel zu sehen. Natürlich kann man häufiger die Übung durchführen, hierfür wird jedoch häufig die Zeit fehlen. Betreibt man die proaktive Entspannung seltener, besteht die Gefahr, dass man über die Anspannungsgrenze (70%) läuft, weil man nicht oft genug korrektiv eingreift.
Wieso ohne Hilfsmittel?
Das Verfahren sollte immer und überall angewandt werden können. „Ich hatte keine Yoga-Matte dabei.“, „Ich hatte kein Internet und konnte daher die Instruktion nicht laden.“, „Ich konnte mich nirgends hinlegen.“ und ähnliche Sätze können nur fallen, wenn man sich von Hilfsmitteln abhängig macht. Daher ist es das beste PMR so einfach wie möglich zu lernen, damit es immer und überall angewandt werden kann.
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